CHAMISSO - LA STORIA STRAORDINARIA DI PETER SCHLEMIHL
Interview
Flaubert - Ein schlichtes Herz
Sereni: Herr Neri, ich habe gerade Ein schlichtes Herz von Flaubert gelesen...
Neri: ... eine wunderschöne Erzählung ...
S.: ... ja, mir ist Flauberts Haltung gegenüber Félicité nicht klar. Es scheint mir, daß Flaubert nicht ernsthaft ist, sondern ironisch ...
N.: Ah, in diesem Punkt war Flaubert sehr klar. Einer Freundin, Mme Roger des Genettes, die – wie Sie jetzt – dachte, er hätte sich in dieser Erzählung über Félicité lustig gemacht, antwortete er: „Es ist überhaupt nicht ironisch, wie Sie annehmen; im Gegenteil, es ist sehr ernst und sehr traurig.“
S.: Ich verstehe nicht: eine ungebildete und abergläubische Bäuerin, wie Flaubert sagt, ein „Automat“, der am Ende den Heiligen Geist...
N.: … erinnern Sie sich an die Worte des Evangeliums? „Selig sind, die da geistig arm sind; denn ihrer ist das Himmelreich. Selig sind, die da Leid tragen; denn sie sollen getröstet werden. Selig sind die Sanftmütigen; denn sie werden das Erdreich besitzen. Selig sind, die reinen Herzens sind; denn sie werden Gott schauen.“ Hier ist Ein schlichtes Herz nichts anderes als die Illustration dieser Worte des Apostels Matthäus. Félicité ist von begrenzter Intelligenz („son intelligence était bornée“). Von religiösen Dogmen – sagt Flaubert – verstand sie nichts. Wenn der Pfarrer in der Kirche sprach, schlief sie ein. Im Gegensatz zu Virginia, der Tochter der Hausherrin, erhielt Félicité in ihrer Kindheit keine religiöse Erziehung. Aber sie braucht das nicht, weil sie einfach glaubt, was ihre Pastoren ihr beibringen. Wie alle Menschen wahren Glaubens sieht sie die Gegenstände ihres Glaubens wirklich: „Zuerst faßte der Priester die Heilige Geschichte zusammen. Félicité war es als sähe sie das Paradies, die Sintflut, den Turm von Babel, die brennenden Städte, die zerstörten Völker, die umgestürzten Idole; und diese Visionen weckten in ihr den Respekt vor dem Herrn und die Angst vor seinem Zorn.“ Diese gute Seele kann nichts definieren, nichts erklären und macht alles mit stiller Hingabe: „Sie aß langsam und sammelte die kleinsten Krümel ihres Brotes vom Tisch auf; ein Brotlaib von zwölf Pfund, eigens für sie gebacken.“ Alle vertrauten Dinge, von denen das Evangelium spricht, wie eben das Essen von Brot, waren immer Teil von Félicités Existenz gewesen. „Der Abdruck Gottes – erklärt Flaubert – machte sie heilig; deshalb liebte sie die Lämmer zärtlicher aus Liebe zum Lamm Gottes, die Tauben wegen des Heiligen Geistes.“ Unschuld, Lauterkeit des Herzens, wahre Frömmigkeit ersetzen in ihr die Dogmen: Sie hilft ihrer Schwester finanziell, sie dient der Herrin mit Selbstaufopferung, sie gewährt einem polnischen Soldaten Gastfreundschaft, hilft einem alten Krebskranken ... Anders als die Selbstsucht ihrer Herrin, die sich aus Geiz weigert, ihre Tochter zur Behandlung in die Provence zu schicken, aber nicht zögert, zu ihrem eigenen Vergnügen ein Fäßchen Wein zu kaufen, ist die Güte von Félicité unendlich („La bonté de son coeur se développa“).
S.: Aber auch Félicité spart bei allem.
N.: Natürlich, aber ihre Sparsamkeit ist Armut, christliche Demut. Das Gegenteil der Habgier des bürgerlichen Geistes. Félicité lebt und stirbt in der Wahrheit des Glaubens. Für sie bedeutete diese Wahrheit vor allem: Arbeit: „Sie stand im Morgengrauen auf, um die Messe nicht zu verpassen, dann arbeitete sie ohne Unterbrechung bis zum Abend; als sie mit dem Servieren bei Tisch und dem Abwasch fertig war, verriegelte sie die Tür, bedeckte den Scheit mit Asche und schlief mit dem Rosenkranz zwischen den Fingern vor dem Herd ein."
S.: Aber zurück zu Flauberts Ironie ...
N.: Zu glauben, daß Flaubert hinter Félicités Rücken lacht, bedeutet, einen bürgerlichen Standpunkt einzunehmen, den Standpunkt jener Klatschbasen von der Pont-l’Evêque, die Madame Aubain um ihre Magd beneideten, die für nur 100 Francs im Jahr alles erledigte. Nichts lag Flaubert ferner! Es sind in der Tat die Bourgeois, die gebildeten Bourgeois, die sich über die fromme Einfachheit der Menschen vom Lande lustig machen, die deren direkte und traditionelle Religiosität als lächerlichen Aberglauben abstempeln. Was die Bourgeoisie vom Volk unterscheidet, ist genau, daß sie nicht abergläubisch ist. Zwischen sich und Gott stellt der Bourgeois die Vernunft, die Kritik der Dogmen. Zwischen sich und die Gottheit stellt das Volk hindessen nichts, so daß die Religion mit all ihrer Kraft auf ihre Vorstellungskraft einwirkt. Die Passion Christi rührt Félicité zu Tränen. „Dann brachte die Passion sie zum Weinen. Weil sie Ihn gekreuzigt hatten, Ihn, der Kinder liebte, Menschen speiste, den Blinden das Sehvermögen zurückgab und demütig unter den Armen auf der Streu der Ochsen geboren werden wollte.“ In der Welt, die der Bourgeois sich geschaffen hat, gibt es keinen Platz mehr für das Mysterium, das Wunderbare, das Übernatürliche. Der Bourgeois glaubt nicht mehr an den Heiligen Geist. Das ganze Gegenteil von Félicité: „Jedoch hatte sie Mühe, sich ihn, den Heiligen Geist, vorzustellen, denn er war nicht nur ein Vogel, sondern bald eine Flamme, bald kaum ein Hauch. Sie dachte, er sei das Licht, das nachts am Rand der Sümpfe zuckt, und sein Atem, der die Wolken treibt, seine Stimme, die die Glocken so melodiös macht; und diese Fantasien ließen sie in Anbetung bleiben, während sie sich über die Frische der Mauern und den Frieden der Kirche freute.“ Glaube, wahrhafter Glaube, der keine „Schulung“ braucht, suggeriert Flaubert, ist jetzt das Vorrecht des Volkes, einfacher und abergläubischer Menschen. Dies in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts zu sagen, im Zeitalter des Positivismus und der Religionskritik, war ein Paradox. Das Risiko war, mißverstanden zu werden: Madame Roger des Genettes glaubte, er sei ironisch. Aber, ich wiederhole: Die einzige Ironie, die sich Flaubert erlaubt, ist genau die, es nicht zu sein. Wieder einmal verwirrt Flaubert sein bürgerliches Publikum und enttäuscht dessen Erwartungen.
S.: Am Ende, sterbend, verwechselt Félicité einen ausgestopften Papagei mit dem Heiligen Geist. Macht sich Flaubert auch hier nicht über sie lustig?
N.: Nein! Auf den letzten Seiten treibt Flaubert sein Paradox auf den Höhepunkt. Einen Papagei für den Heiligen Geist zu halten, ist das noch wahrer Glaube? Ist das nicht Wahnsinn, purer Wahnsinn? „Aber hat Gott – fragte sich Paulus im ersten Brief an die Korinther – „nicht die Weisheit der Welt zur Torheit gemacht? Es steht in der Tat geschrieben: ‚Ich will zunichtemachen die Weisheit der Weisen, und den Verstand der Verständigen will ich verwerfen.‘ Denn die göttliche Torheit ist weiser, als die Menschen sind.“ Flaubert gehörte noch zu einer Generation, die die Bibel las. Félicités Aberglaube ist Torheit in den Augen der Welt, das heißt der Bourgeoisie, aber nicht in Gottes Augen. Félicité sieht den Heiligen Geist in einem ausgestopften Papagei. Der Bourgeois hingegen glaubt nicht mehr an den Heiligen Geist. Félicité kann noch nach dem Himmel streben; der Bourgeois nicht mehr. „Eine blaue Wolke stieg in Félicités Zimmer auf. Sie spannte die Nasenflügel auf und saugte sie mit mystischer Sinnlichkeit ein. Dann schloß sie die Augen. Ihre Lippen lächelten. Die Schläge des Herzens wurden schwächer und schwächer, immer unbeständiger, sanfter, wie ein Brunnen, der versiegt, ein Echo, das erlischt. Als sie ihren letzten Atemzug tat, meinte sie, oben am Himmer, für sie geöffnet, einen riesengroßen Papagei zu sehen, der über ihrem Kopf schwebte.!
S.: Gab es dieses Streben nach dem Absoluten auch bei Flaubert?
N.: Ja! Genau wie er „Mme Bovary c‘est moi“ gesagt hatte, hätte Flaubert sagen können „Félicité c’est moi“. Félicités Wahn ist derselbe wie Gustaves. „Die Existenz – schrieb er in einem Brief – ist für mich nur im literarischen Wahn erträglich“. Für Félicité verkörpert sich das Absolute in einem ausgestopften Papagei; für Flaubert im Kunstwerk. Beides sind Trugbilder. Aber was macht das? Was zählt, ist die Überwindung der bürgerlichen Existenz, die keine mystischen Impulse kennt.
S.: „Félicité c’est moi“?
N.: Ja! Um im März 1876 Ein schlichtes Herz zu schreiben, hatte Flaubert Bouvard et Pécuchet unterbrochen. Der Roman illustrierte die im Buch Kohelet verkündete Wahrheit, daß Wissen und alles Menschliche nur Eitelkeit waren. (Flauberts sogenannter Nihilismus entstammt einer Wiederbesinnung auf Kohelet). Flaubert strebte nun ein Los evangelischer Einfachheit an. Das von Félicité! Und wie Félicité, bei der die liebsten Menschen nach und nach verschieden, geriet auch Flaubert in die größte Einsamkeit. Seine Mutter, mit der er immer zusammengelebt hatte, war 1872 gestorben. Einer nach dem anderen waren auch die Freunde verschwunden. Im Oktober 1872 schreibt er an Mme Roger des Genettes: „Man hat mir einen Hund, einen Windhund geschenkt [Félicité wird man einen Papagei schenken!]. Ich gehe mit ihm spazieren und beobachte die Wirkung der Sonne auf die Blätter, die gelb werden, während ich über meine zukünftigen Bücher nachdenke und über die Vergangenheit grübele, denn jetzt bin ich alt. Die Zukunft hat keine Träume mehr für mich und die fernen Tage beginnen sanft in einem hellen Dampf zu schwingen. Einige belebte Figuren lösen sich aus diesem Hintergrund, liebe Geister, die die Arme nach mir ausstrecken.“ Flauberts Melancholie ist die von Félicité, als sie sich an ihr früheres Leben erinnert: „Dann fühlte sie sich, als würde sie ohnmächtig werden und blieb stehen; und das Elend ihrer Kindheit, die Enttäuschung ihrer ersten Liebe, die Abreise ihres Neffen, der Tod von Virginia, all die Erinnerungen überkamen sie wie eine Flut, schnürten ihr die Kehle zu, erstickten sie." Schließlich war auch die ihm so zugetane George Sand gestorben. „Der Tod meiner alten Freundin – schreibt er in einem Brief – hat mich tief betrübt. Mein Herz wird zu einer Totenstadt: Wie weitet sich die Leere! Ich habe das Gefühl, daß die Erde sich entvölkert.“ George Sand hatte ihn im Januar 1876 dazu veranlaßt, über ein Thema „hoher Moral“ zu schreiben. Um ihr zu gefallen, hatte Flaubert Ein schlichtes Herz begonnen, eine Hymne an die Güte des menschlichen Herzens (großes Thema bei Sand), der einzige Wert, der den Zusammenbruch, der jetzt sein Leben war, überlebt hatte, eine Geschichte, in der er – wie Gérard-Gailly schrieb – „ohne die Güte zu predigen, ohne sie mit den Sätzen des Autors anzukündigen, sie in den unbewußten Handlungen der einfachsten und dunkelsten Wesen erscheinen läßt.“