CHAMISSO - LA STORIA STRAORDINARIA DI PETER SCHLEMIHL
Interview
Ungaretti - L'Allegria
Sereni: Neri, was retten wir heute in unsere Arche?
Neri: Einen Gedichtband. L’Allegria von Giuseppe Ungaretti. Kennen Sie ihn?
S.: Und ob! Ich erinnere mich an das Gedicht Soldati. Darf ich es vortragen?
N.: Natürlich!
S.: “Si sta come / d’autunno / sugli alberi / le foglie.“ Leicht, oder?
N.: Ja, aber wie viele Dinge in so wenigen Worten!
S.: Ungaretti schrieb es an der Front, während des Ersten Weltkriegs.
N.: Es ist Sommer...
S.: ...und doch ist es wie im Herbst, wenn die Blätter fallen.
N.: Das ist die Lage des Soldaten Ungaretti; daher die Klarstellung: Bosco di Cortona – Juli 1918.
S.: Es ist auch die Lage all der anderen Soldaten, wie Ungaretti ständig der Gefahr ausgesetzt, getötet zu werden, zu fallen...
N.: ...genau! Dieses Gedicht lebt von der Spannung zwischen der persönlichen Erfahrung, die unersetzlich ist (man kann nicht den Tod eines anderen sterben), und der kollektiven Erfahrung, der unpersönlichen Erfahrung des "si sta".
S.: Der gewöhnliche Soldat, der das Schicksal seines Regiments teilt.
N.: „Sono un poeta / un grido unanime“, sagt Ungaretti irgendwo.
S.: In dem Gedicht Italia.
N.: In den Schützengräben entdeckt der Soldat, daß der Kamerad neben ihm sein Bruder ist. Das Leben des Soldaten hängt von seinem Kameraden ab, von seiner Solidarität: „Tra un fiore colto e l’altro donato / l’inesprimibile nulla“. Jenseits dieser Geste ist das Nichts: für den Soldaten das Ende, der Tod. Dieses Gedicht hat den Titel Eterno. Das Geschenk antwortet auf die Gnade, welche Liebe, Selbsthingabe ist.
S.: In Ungarettis Gedicht öffnen sich, quasi unversehens, einige leuchtende Risse, in denen Wahrheiten, wie soll ich sagen, letzte, endgültige Wahrheiten auftauchen.
N.: Der Soldat ist sich seiner Zerbrechlichkeit als Mensch bewußt, als ein Geschöpf, das der Nacht und der Unendlichkeit überlassen ist: „Mi vedo / abbandonato nell’infinito“, lesen wir in Un’altra notte.
S.: Hier erreicht Ungaretti Pascalsche Akzente.
N.: Es ist das Geheimnis des Menschseins: die Bestürzung des Menschen vor der ewigen Stille des unendlichen Alls, das gequälte Bewußtsein des eigenen Elends, der eigenen Vergänglichkeit („Mi riconosco immagine passeggera // Presa in un giro immortale“); aber auch der eigenen Würde, der eigenen Größe. Denn nur das Herz des Menschen ist, wie Pascal sagt, in der Lage, das Göttliche zu fühlen, wahrzunehmen, weil nur dem Menschen die Unendlichkeit der Gnade offenbart wird: „M’illumino d’immenso“ (Mattina).”
S.: In den Schützengräben versteht Ungaretti, daß die Lage des Soldaten die Lage des Menschen ist.
N.: Der Krieg offenbart, wie alle Grenzsituationen, dem Menschen sich selbst... offenbart sein Wesen.
S.: Das Wesen des Menschen zu entdecken, war das Programm der Expressionisten, eines Franz Marc, eines Werfel, eines Stadler... und in Italien des Montale der Ossi di Seppia.
N.: Historisch gesehen ist die Poesie Ungarettis, oder zumindest die des ersten Ungaretti, in den Bereich des europäischen Expressionismus einzuordnen. Die Expressionisten versuchten, den Menschen so darzustellen, wie er ist, nackt... Sie wollten also das wesentliche Wort finden: „Quando trovo / in questo mio silenzio / una parola / scavata è nella mia vita / come un abisso”, schreibt Ungaretti in Commiato.
S.: Sie waren auf der Suche nach der Wahrheit...
N.: Ja. In den Schützengräben wurde die Italienische Literatur des 20. Jahrhunderts geboren.
S.: Im Gegensatz zur lautstarken Rhetorik eines D’Annunzio.
N.: Nicht nur D’Annunzio.
S.: Aber auch Ungaretti war ein eifriger Nationalist.
N.: Ungaretti, geboren und aufgewachsen in Alexandria in Ägypten, einer kosmopolitischen Stadt, dann lange Zeit in Paris, war kein Nationalist. Seine Kriegsbegeisterung war eher von einer glühenden Liebe zu Italien getrieben. Heute ist das für uns schwer zu verstehen.
S.: Was ist die Vision des Menschen, die der Krieg Ungaretti offenbart? Mir scheint das eine sehr negative Vision zu sein.
N.: Würde ich nicht sagen. Der Titel des Buches, in dem Ungaretti seine Kriegsgedichte sammelt, ist L’Allegria.
S.: Aber ist die Prekarität des Soldaten an der Front nicht die jedes Menschen?
N.: Ja, das stimmt. Aber das ist nicht sein letztes Wort. „E subito riprende / il viaggio / come dopo il naufragio / un superstite / lupo di mare.“ (Allegria di naufragi). Die Bäume verlieren ihre Blätter, die Menschen sterben, aber dann kommt der Frühling...
S.: ...und das Leben beginnt von neuem.
N.: Vielleicht ist dies die eigentliche Botschaft von L’Allegria. Dieselbe wie bei Homer im Sechsten Buch der Ilias: "Gleich wie Blätter im Walde, so sind die Geschlechter der Menschen, / Einige streut der Wind auf die Erd hin, andere wieder / Treibt der knospende Wald, erzeugt in des Frühlinges Wärme; / So der Menschen Geschlecht; dies wächst und jenes verschwindet". Homer war der erste, der das Bild der Blätter an Bäumen benutzte, um die Conditio der Soldaten darzustellen...
S.: ...und die des Menschen.
N.: Ja.
© 2020 Matteo Neri