CHAMISSO - LA STORIA STRAORDINARIA DI PETER SCHLEMIHL
Interview
Leopardi - L'Infinito
Sereni: Auf die Frage nach einem guten Vorsatz für das Jahr 2000 antwortete Italo Calvino: „Gedichte auswendig lernen. Viele Gedichte auswendig lernen. Als Kinder, als Jugendliche, ja sogar als alte Menschen, weil sie uns Gesellschaft leisten, man wiederholt sie im Geiste, außerdem ist die Entwicklung des Gedächtnisses sehr wichtig.“
Neri: Ich bin völlig einverstanden. Aber lernt man in der Schule immer noch Gedichte auswendig? Ich glaube nicht. Zumindest in deutschen Schulen. Und in Italien?
S.: Immer weniger.
N.: Eines aus Calvinos Interview sollte noch hervorgehoben werden: das Gedächtnis. Man muss sein Gedächtnis entwickeln. Umso mehr heute, wo das künstliche Gedächtnis das des Menschen zunehmend ersetzt.
S.: Sind Sie etwa gegen Computer?
N.: Wie könnte ich das sein? Das künstliche Gedächtnis hat die Kapazität zur Speicherung von Informationen immens erweitert. Und doch findet der Informationsaustausch – jene Kurzschlüsse, die Ideen hervorbringen – nicht im Computer statt, sondern im menschlichen Gehirn, in seinem Gedächtnis. Weder denkt der Computer... noch träumt er.
S.: Ein Gedicht, an das ich mich mit Freude erinnere, ist L’Infinito von Leopardi. Wenn Sie gestatten, werde ich es rezitieren:
Sempre caro mi fu quest’ermo colle,
E questa siepe, che da tanta parte
Dell’ultimo orizzonte il guardo esclude.
Ma sedendo e mirando, interminati
Spazi di là da quella, e sovrumani
Silenzi, e profondissima quiete
Io nel pensier mi fingo; ove per poco
Il cor non si spaura. E come il vento
Odo stormir tra queste piante, io quello
Infinito silenzio a questa voce
Vo comparando: e mi sovvien l’eterno,
E le morte stagioni, e la presente
E viva, e il suon di lei. Così tra questa
Immensità s’annega il pensier mio:
E il naufragar m’è dolce in questo mare.
N.: Welch ein Glück, sich jederzeit an diese Verse erinnern zu können!
S.: Haben Sie den Kommentar von De Robertis gelesen?
N.: Ja, ein ausgezeichneter Kommentar. Was könnte ich hinzufügen? Ah ja, eines überzeugt mich nicht: wenn er sagt, daß die Hecke, indem sie verhindert, daß der Horizont bestimmt wird, das Gefühl des Unbegrenzten erzeugt. Mir scheint das Gegenteil der Fall zu sein: statt es zu verhindern, bestimmt die Hecke den Horizont und somit das Unendliche.
S.: Ich verstehe das nicht.
N.: N.: Im Gedanken, sagt Leopardi, bilde ich mir („mi fingo“) das Unendliche ein. Nun, wie ist es möglich, einen Begriff des Unendlichen zu haben, wenn man es vorher nicht bestimmt, eingegrenzt hat? Das Unendliche kann nur im Endlichen erscheinen, in einer Form, die ihm durch ihre Eingrenzung Wirklichkeit, sozusagen Sichtbarkeit verleiht. Sonst könnten wir es nicht einmal denken. Denn auch Ideen sind – wie Platon lehrt – endliche Formen.
S.: Mir kommt ein Brief von Baudelaire an Armand Fraisse in den Sinn: „Avez-vous observé“, schrieb er ihm, „qu’un morceau de ciel, aperçu par un soupirail, ou entre deux cheminées, deux rochers, ou par une arcade, etc., donnait une idée plus profonde de l’infini que le grand panoramas vu du haut d’une montagne?“
N.: Genau so. Leopardi betrachtet den Horizont vom Berg Tabor in Recanati aus. Das Unendliche wird in seiner räumlichen Dimension (die „interminati spazi“) und seiner Klangdimension (die „sovrumani silenzi“) betrachtet. Als Raum wird er durch die Hecke begrenzt; als Klang, als Stille, durch das Pfeifen des Windes.
S.: Kurz gesagt, es ist das, was Baudelaire „infini diminutif“ nennt. Andererseits fügte Baudelaire in Mon cœur mis à nu hinzu, wen kümmert es, ob diese sozusagen partielle Unendlichkeit dazu dient, die Idee der totalen Unendlichkeit zu suggerieren?
N.: Leopardi war der gleichen Meinung: „Zuweilen“, schrieb er im Zibaldone, „wird die Seele eine enge und auf gewisse Arten begrenzte Sichtweise wünschen und wünscht sie in der Tat, wie in romantischen Situationen. Die Ursache ist dieselbe, nämlich die Sehnsucht nach dem Unendlichen, denn dann arbeitet statt des Sehens die Vorstellungskraft, und das Phantastische ersetzt das Reale. Die Seele stellt sich das vor, was sie nicht sieht, was dieser Baum, diese Hecke, dieser Turm vor ihr verbirgt, und sie wandert in einem imaginären Raum, und sie stellt sich Dinge vor, die sie nicht sehen könnte, wenn ihr Blick sich überall hin erstrecken würde, weil das Reale das Imaginäre ausschließen würde. Also die Lust, die ich als Kind immer verspürte, und auch jetzt noch, wenn ich den Himmel usw. durch ein Fenster sehe, eine Tür, eine Wegüberdachung, wie man sagt.“
S.: Die Ähnlichkeiten zwischen Leopardi und Baudelaire sind in dieser Hinsicht frappierend.
N.: Raum und unendliche Stille erinnern an die Unendlichkeit der Zeit: In dieser Unermeßlichkeit erinnert sich der Dichter an die Ewigkeit. Wenn zunächst das Unendliche in ihm – wie in Pascal – ein Gefühl der Angst erweckt, so ist es für ihn jetzt angenehm, darin Schiffbruch zu erleiden. Das Subjekt löst sich in das Unendliche auf, der Schmerz des Daseins, der bei Schopenhauer durch die Loslösung des Individuums vom undifferenzierten Ganzen im Augenblick der Geburt verursacht wurde, hat aufgehört, daher das Gefühl der unermeßlichen Lust. Aber vielleicht war das alles nur ein Traum.
S.: Ein Traum?
N.: Ja, eine Phantasie, eine Fiktion: Sagt der Dichter nicht „io nel pensier mi fingo“? Leopardi schrieb im Zibaldone: „Aber das Unendliche ist eine Idee, ein Traum, keine Realität: Zumindest haben wir keinen Beweis für sein Dasein, nicht einmal durch Analogie, und wir können sagen, daß wir uns in unendlicher Entfernung von der Erkenntnis und dem Nachweis einer solchen Existenz befinden: Man könnte auch nicht wenig darüber streiten, ob das Unendliche möglich wäre (was einige Moderne wohl verneint haben), und ob diese Idee, Tochter unserer Vorstellungskraft, nicht in sich selbst widersprüchlich, d.h. in der Metaphysik falsch sei. Gewiß kann nach den Gesetzen des Daseins, die wir kennen können, d.h. jene die von den existierenden Dingen abgeleitet sind, die wir kennen, oder von denen wir wissen, daß sie wirklich existieren, das Unendliche, d.h. ein Ding ohne Grenzen, nicht existieren [...]. Es scheint, daß nur das, was nicht existiert, die Negation des Seins, das Nichts, grenzenlos sein kann, und daß das Unendliche im Wesen dem Nichts gleichkommt. Es scheint vor allem, daß die Individualität der Existenz natürlich irgendeine Begrenzung impliziert, so daß das Unendliche keine Individualität zuläßt und diese beiden Begriffe widersprüchlich sind; daher kann man nicht ein individuelles Seiendes ohne Grenzen annehmen“.
S.: Laut Leopardi ist der Mensch also zu seiner Endlichkeit verdammt und folglich zu seinem Unglück.
N.: Es ist die Unzulänglichkeit aller irdischen Gelüste, die uns zum Unendlichen hinwendet. „Die menschliche Seele“, erklärte Leopardi, „[...] begehrt immer wesentlich und strebt ausschließlich, wenn auch auf tausend Arten, nach Lust, d.h. nach Glück, das, wenn man es gut bedenkt, eins mit der Lust ist. Dieses Begehren und diese Neigung hat keine Grenzen, denn sie angeboren und dem Dasein innewohnend und kann daher kein Ende haben in diesem oder in jener Lust, die nicht unendlich sein kann.“
S.: Die Lust, die in der Realität nicht zu finden ist, findet sich jedoch in der Vorstellung, nicht wahr?
N.: Zum Glück gibt es das Vermögen der Vorstellungskraft, die sich auch Dinge ausdenken kann, die es nicht gibt, und die uns mit Gelüsten versorgt, die wir uns als unendlich vorstellen können. „Die unendliche Lust, die in der Realität nicht zu finden ist“, so Leopardi abschließend, „findet sich somit in der Phantasie.“ Vorstellungskraft bedeutet nichts anderes als Poesie. Es ist eine Illusion, einverstanden, aber eine Illusion, die uns gut tut, die uns glücklich macht.
© 2020 Matteo Neri